Die Kirchen heute – systemrelevant oder überbewertet?
Warum es wichtig war, die Amriswiler Kirchen während des Lockdowns offen zu halten – Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche sowie der Freikirche Chrischona begründen, wieso die Kirchen durchaus systemrelevant sind und wieso sie während der Coronakrise an Bedeutung gewonnen haben.
Die Lockerungen kommen. Jetzt stehen wir kurz vor «normal». Aber was bedeutet das? Viele werden ihr Leben zukünftig in ein Vor- und Nach-Corona aufteilen. Nicht alles ist schlecht rausgekommen. Arbeitende geniessen die Erfahrungen vom Homeoffice. Der Wegfall des täglichen Berufsverkehrs hat etliche Stressfaktoren reduziert. Bei vielen haben die Massnahmen zu einem entschleunigten Leben geführt. Auf der anderen Seite haben Menschen unter dem Verlust der sozialen Kontakte und der einhergehenden Einsamkeit gelitten. Keine Vereinsaktivitäten und -anlässe. Selbst private Treffen nur in kleinen Gruppen. Nicht umsonst lechzt man nach den Öffnungsschritten. Auch die Amriswiler Kirchen spürten in den letzten Monaten Höhen und Tiefen. Im ersten Lockdown gingen sie gänzlich vergessen. Waren die Kirchen wie Kinos und Theater zu handhaben, oder doch eher wie Vereine? Welche Bedeutung haben Gottesdienste und die geistliche Gemeinschaft, die Menschen gerade in dieser Zeit suchen und brauchen? Sind Kirchen womöglich «systemrelevant», weil sie eine Dienstleistung erbringen, die für viele notwendig ist? Im zweiten Lockdown war ein Gottesdienst mit 50 Personen möglich. Der Mundschutz war zu verschmerzen. Doch weil normalerweise mehr als 50 Personen in einem Gottesdienst sind, waren die Kirchen herausgefordert, neue Wege zu finden.
Die Predigt zu Hause auf dem Sofa verfolgen
Schnell war der Livestream-Gottesdienst ins Leben gerufen. Plötzlich hatten die Kirchen sonntags mehr Besucher in den Gottesdiensten – 50 vor Ort und viele online. Ein Fenster Gottes in aller Öffentlichkeit für alle Menschen durch die Gottesdienste in Amriswil. Regelmässig bekommen die Kirchen Rückmeldungen aus der Region, aber auch aus anderen Teilen der Schweiz und sogar aus Deutschland. Der Livestream wird in der Freikirche Chrischona deshalb bleiben. Auch in der katholischen Kirche wurde die Möglichkeit des Livestream-Gottesdienstes schnell umgesetzt. Wurde die Predigt vor der Kamera jedoch schnell zur Routine, waren vor allem die lichten und leeren Kirchenbänke ein Bild, an das man sich nicht gewöhnen wollte. Besonders an Fest- und Feiertagen sei es schwer gewesen, vor einer kleinen Gemeinde zu sprechen. Doch durch die Liveübertragung und viele Rückmeldungen spürte man, dass man auf digitale Weise verbunden war und immer noch ist. Manchmal verfolgten mehr als hundert Menschen den Livestream. Darunter auch Menschen, die aus Amriswil weggezogen sind. Eine Verankerung mit der «Heimkirche» war und ist also deutlich spürbar. Auch das APZ hat die Gelegenheit genutzt und die Übertragung der Gottesdienste ermöglicht. Was nun aber immer noch fehlt, ist das gemeinsame Singen im Chor.
Per Telefon zu Gottes Segen
Im Frühling vergangenes Jahr hat die evangelische Kirche kurze Videos mit geistlichen Impulsen auf Youtube veröffentlicht, die laut Claudia Schindler, Präsidentin der Evangelischen Kirchgemeinde Amriswil-Sommeri sehr oft geklickt wurden. Daneben organisierte die Kirchgemeinde eine Einkaufshilfe, die dank dem Engagement vieler Freiwilliger die grosse Nachfrage abdecken konnte. Und diese Hilfe sei durchaus systemrelevant gewesen. Punktuell experimentierte auch die evangelische Kirche mit Liveübertragungen, hat aber mehr Resonanz auf ein einfacheres Medium erfahren – das Telefon. Jeden Sonntag hören zahlreiche Menschen von Zuhause aus die Predigt via Telefon. Dieses Angebot wird auch nach der Krise weitergeführt.
Kirchen – Aufrechterhaltung der Normalität
Nun also zurück zu mehr Lockerungen und mehr Freiheiten. Zurzeit sind es 100 Personen, die kommen dürfen. Ab morgen dürfen wieder 2/3 der Sitzplätze belegt werden. Die Kirche ist anpassungsfähig – und für viele Menschen sehr relevant. Das wurde in der Krise deutlich. Ist sie systemrelevant? Zumindest für den Geist und die Seele eines Menschen, der mehr ist als eine Anhäufung von Atomen und Molekülen. Das ist einigen deutlich bewusst geworden. Die Kirchen waren keine Treiber der Fallzahlen – aber für viele Menschen Aufrechterhaltung von Normalität, Anlaufpunkt für Begegnungen, Auffangpunkt in der Not, Stimme des Trostes und der Unterstützung in den vielen Herausforderungen, die es in den letzten Monaten zu bewältigen gab. Systemrelevant oder nicht? Das muss jeder selbst entscheiden. Aber der Auftrag der Kirche, für Menschen in Not da zu sein, gemeinschaftliches Leben zu ermöglichen und in Krisen Trost und Hilfe zu geben – der wurde in den letzten 15 Monaten deutlich von den Kirchen in Amriswil wahrgenommen. Dafür stehen die örtlichen Kirchen. Denn eine Kirche ist kein Apparat, die Kirche lebt mit und für Menschen. Gernot Rettig/tas, 24. Juni 2021